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Channel: Kiezschreiber
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Der Schatten

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Winter in Berlin. Es ist dunkel und doch sieht man keine Schatten.

Dann kommt der Frühling. Die Sonne scheint. Aber mein Schatten ist verschwunden.

Ich finde ihn Wochen später in Rom wieder. Er sitzt auf der Terrasse eines Kaffeehauses an der Piazza Dell‘Inferno. Unter der lichterloh brennenden Sonne zeichnen sich seine Ränder scharf ab.

„Was machst du hier?“ frage ich ihn.

„Ich trinke schwarzen Kaffee“, antwortet er. „Wenn ich ins Café hineingehe, werde ich unsichtbar.“

„Von was lebst du?“

„Licht. Licht und schwarzer Kaffee.“

„Und wie bezahlst du ihn?“

„Meine Braut hat einen reichen Vater.“

„Wie hast du denn eine Frau kennengelernt?“

„Ich habe sie auf der Piazza gesehen und mich nachts in ihr Haus geschlichen. Während sie schlief, habe ich ihr eingeflüstert, dass sie einen dunklen Mann kennenlernen wird.“

„Und das hat funktioniert?“

„Ja. Ich habe hier auf sie gewartet. Sie hat sich sofort in mich verliebt.“

„Und wie bist du nach Rom gekommen?“

„Mit dem Nachtzug. Es hat mich keinen Cent gekostet.“

„Willst du nicht wieder zu mir zurückkehren?“

„Nein. Aber ich mache dir ein Angebot.“

„Ein Angebot?“

„Ja. du darfst mein Schatten sein. Du wirst mich begleiten und dich vor mir auf den Boden legen.“

„Du bist verrückt.“

„Glaubst du?“

„Das kann doch alles nicht wahr sein.“

„Morgen ist meine Hochzeit. Entweder du kommst als mein Schatten mit mir in die Kirche oder die Männer meines Schwiegervaters werden dich töten. Er ist sehr mächtig.“

Ich blieb in Rom. Als Schatten meiner selbst.

 

Der Dank für die Inspiration geht an Hans Christian Andersen.

 


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