Eigentlich
war er immer pleite, meistens schon in der Mitte des Monats. Dann ging er zum
Mittagessen zu seiner Mutter, die ihm auch ein paar Lebensmittel mitgab. Es gab
niemanden, den er nicht anschnorrte. Ich habe ihm sehr oft Geld geliehen,
eigentlich hatte er über Jahrzehnte ein überzogenes Konto bei mir. In der
Spitze waren es 250 Euro. Mal zahlte er fünfzig Euro zurück, nur um sich eine
Stunde später wieder zwanzig Euro zu leihen, weil er die Zeche in der
Dorfkneipe nicht zahlen konnte. Wenn wir einen Abend zu zweit mit Videos und
Musik verbrachten, wartete er immer, bis wir beide blau genug waren, um mich um
einen Zehner anzuhauen. Er hoffte wohl, dass ich mich am nächsten Tag nicht
mehr daran erinnern würde. Natürlich erinnerte ich mich daran, aber ich
verdiente damals viel mehr als er und ließ ihm das kleine Almosen. Wenn ich ihm
in jungen Jahren Geld lieh, strahlte er immer und sagte „Du bist mein bester
Freund.“ Später hörte man noch nicht mal ein Danke.
Der
absurdeste Versuch, endlich mal an einen Haufen Geld zu kommen, war sein
Vorschlag, gemeinsam einen Kredit über 15.000 Euro aufzunehmen. Jeder von uns
bekäme dann 7.500 Euro. Wegen seines Schufa-Eintrags solle aber nur ich den Antrag
unterschreiben. Win-win, wir hätten beide die Taschen voller Kohle. Ich
erklärte ihm, dass wir das Geld doch mit Zinsen zurückzahlen müssten. Ich
glaube, er hat es gar nicht begriffen. Einmal hatte er sich am Monatsanfang,
als endlich sein Lohn auf dem Konto war, für hundert Euro Rubbellose an der
Tankstelle gekauft. Freudestrahlend erzählte er mir später, er habe 37 Euro
gewonnen. Nein, erklärte ich ihm, du hast 63 Euro verloren. Bei Schichtende,
morgens um sieben, fuhr er gerne zur Aral-Tankstelle, die auf dem Heimweg lag,
und kaufte sich drei völlig überteuerte „Jackie-Döschen“. Die erste Dose trank
er in seinem Wagen direkt an der Tanke, die er liebevoll „die blaue Lagune“
nannte.
Im
Laufe der Jahre wurde er seinem Vater immer ähnlicher. Verbittert und schlecht
gelaunt, immer zum Streit oder zu kleinen Sticheleien aufgelegt. Es machte ihm
Spaß, andere zu ärgern und ihnen den Tag zu versauen. Jeder, den er kannte,
hatte es zu was gebracht, lebte im eigenen Haus oder in einer Eigentumswohnung.
Er war einer der wenigen Mieter im Dorf. Er fing an, AfD zu wählen. Ich fragte
ihn, warum er das machen würde. „Aus reiner Boshaftigkeit“, antwortete er und
grinste. Er hat sich nie für Politik interessiert.
Überhaupt
hatte er keine Interessen oder Hobbys. Er hat selbst als Kind nichts gesammelt
und die wenigen Bücher in seiner Wohnung waren alle aus seiner Jugendzeit. Eine
Weile hatte er die Titanic gelesen, aber mit einer Zeitung hat ihn kein
Mensch je gesehen. Auch Reisen war für ihn kein großes Thema. Wir sind einmal
zusammen nach Holland gefahren, haben uns in einem Coffee Shop in Maastricht
für hundert Mark Haschisch gekauft und fuhren am nächsten Tag ans Meer. Die
Nächte verbrachten wir im Auto, wir ernährten uns von Chips, Bier und
Süßigkeiten aus diversen Supermärkten. Im letzten Riesenjoint war bestimmt ein
Gramm Dope, völlig bekifft fuhren wir zur Grenze, wo die Zollbeamten unseren
Wagen ausgiebig inspizierten. Einmal war er mit seiner Freundin an Weihnachten bei
ihren Eltern auf Sizilien. Als Student hatte er mal einen Job im Nachtzug von
Kopenhagen nach Rom und zurück, hat sich aber beide Städte nie angesehen.
Zwei
Wochen nach seinem Tod hat man die Leiche gefunden. Die Nachbarn hatten den
ekelerregenden Geruch schließlich bemerkt. Am Ende hatte er zu niemandem mehr
Kontakt.