Blogstuff 912
Die großen Demonstrationen gegen den Rechtsextremismus
haben mich überrascht. Ich hätte nicht gedacht, dass hunderttausende Menschen,
die man sonst der schweigenden Mehrheit zurechnet, den Mund aufmachen und auf
die Straße gehen. Interessant sind auch die Reaktionen ihrer Gegner. Vor allem
die Diktaturverherrlicher und AfD-Versteher, die vor Jahren noch in
Kleinbloggersdorf ihrem obskuren Vulgärmarxismus frönten, kommen plötzlich aus
ihren Löchern gekrochen und agitieren offen gegen den Antifaschismus. Die
Rechte ist offenbar nicht nur ein Sammelbecken für Wutbürger, sondern auch für
linke Renegaten.
Ich habe mich in den letzten Wochen mit der Geschichte der
frühen Neuzeit befasst (Wolfgang Behringer: Der große Aufbruch). Wenn man
ausnahmsweise mal seinen historischen Horizont erweitert, merkt man erst, in welch
bedeutungsloser Zeit wir leben. Wer nur in der Gegenwart verharrt, glaubt, jede
Woche würde etwas Weltbewegendes passieren oder eine neue Epoche würde
beginnen. Das ist nicht der Fall. Was ist im 21. Jahrhundert passiert? 9/11?
Dreitausend Tote bei einem Terroranschlag. So what? Auf der Wilhelm Gustloff
sind 1945 mehr Menschen gestorben. Die Kriege im Irak oder in der Ukraine?
Regionale Konflikte, die uns nicht interessieren müssen. Corona? Etwa ein
Promille der Weltbevölkerung ist daran gestorben. Peanuts im Vergleich zu Pest,
Pocken und Cholera in der Vergangenheit. Es hat auch in diesem Jahrhundert noch
keine einzige bahnbrechende Erfindung wie Lokomotive, Auto, Flugzeug,
Mondrakete, Computer oder Internet gegeben. Wenn im Schulunterricht des 23.
Jahrhunderts mal die KI den Cyborgs erzählt, welche markanten Punkte die
Menschheitsgeschichte hatte, wird das 21. Jahrhundert gar nicht vorkommen.
Seit über fünfzig Jahren wird gegendert. Es begann mit „mensch“
und „frau“ statt „man“. Als ich in den Achtzigern anfing, Sozialwissenschaften
zu studieren, war das Old-School-Gendern angesagt. „Ärztinnen und Ärzte“ zum
Beispiel oder „Studentinnen und Studenten“ statt „Studierende“, wie es später
Usus wurde. Was hat es den Frauen gebracht? Welche Fortschritte hat die Frauenbewegung
zu verzeichnen? Sprache mag ein bevorzugtes Feld der Frauen sein, aber es geht
in der Gesellschaft nun mal um Macht und Geld. Auf diesen beiden entscheidenden
Feldern hat es keine nennenswerten Fortschritte gegeben. So lasst uns denn ein
Sternchen malen.
Als ich meine Ghandi-Biographie beim Suhrkamp-Verlag
abgeliefert hatte, monierte die Lektorin, ich hätte Ghandi zu positiv
dargestellt, er hätte doch die Teilung Indiens nicht verhindern können. Da
musste ich der Germanistin Nachhilfeunterricht geben. Vor der britischen
Kolonialherrschaft war der indische Subkontinent, der dreimal so viele
Einwohner wie Europa hat und in dem es 700 Sprachen gibt, in seiner
jahrtausendelangen Geschichte nie geeint gewesen. Und selbst unter den Briten
gab es 565 Fürstentümer, die von Maharadschas regiert wurden und etwa die
Hälfte Indiens ausmachten. Somit war der Zerfall in nur zwei Staaten (Bangladesch
wurde erst in den Siebzigern unabhängig) ein großer Erfolg. Die Maharadschas
wurden entmachtet und ihre Fürstentümer in den Zentralstaat bzw. die Provinzen
eingegliedert. So weit hat es das wesentlich kleinere Europa nie geschafft. Ich
musste im Manuskript nichts ändern.