Beim
Stöbern in meinen Bücherregalen fiel mir ein schmales Bändchen in die Hände:
„Labilität des heutigen Imperialismus und Kampf der Arbeiterklasse“ von Dieter
Klein (DDR 1976). Ich hatte es während der Klassenfahrt nach Berlin 1981 gekauft.
Eine
Stimme aus längst vergangener Zeit, als der Untergang des Westens noch wissenschaftlich
erwiesen war. Offensichtlich war der Mann nie in der Bundesrepublik gewesen,
denn für ihn hatten die Arbeiter bei uns ein revolutionäres Potential und
litten am „sozialen Elend“ der furchtbaren Ausbeutungsverhältnisse. Ich bin
direkt neben einer Fabrik aufgewachsen. Ganz Ingelheim-West war damals ein
Arbeiterviertel, das Anfang der sechziger Jahre entstanden war. Große helle
Wohnungen (wir hatten 4ZKBB mit 100 qm), jede Familie hatte ein Auto und
anstatt über die sozialistische Revolution und die Diktatur des Proletariats
sprachen die Leute über Fußball und die nächste Urlaubsreise.
Ich
musste lachen, als ich jetzt noch einmal lesen musste, wie schrecklich die Welt
meiner Kindheit gewesen ist. Böser, böser Kapitalismus: „Seine Überreife zeigt
sich in einer Vielzahl von Erscheinungen der Fäulnis und des Parasitismus. Die
Entfaltung der Vorzüge des Sozialismus macht diese Situation noch deutlicher.“ Ist
mir bis heute gar nicht aufgefallen. Soziale Ungleichheit wird mit folgenden
Zahlen dokumentiert: Die Nettoprofite der 100 größten
Industrie-Aktiengesellschaften der BRD stiegen zwischen 1966 und 1974 um 247
Prozent, die Nettolöhne aber nur um 186 Prozent. Die Löhne haben sich also in
acht Jahren fast verdreifacht. Davon können wir heute nur noch träumen. Verelendung
und tendenzieller Verfall der Profitrate? Ist der Autor ein verkappter
Marxismuskritiker?
Dazu
die „zyklischen Überproduktionskrisen“. Ist es nicht besser, zu viel zu haben
als zu wenig? Ich habe in den achtziger Jahren achtmal das sozialistische
Ausland besucht: DDR, UdSSR, CSSR, Ungarn. Was mir vor allem aufgefallen ist,
war der Mangel. Meterlange Leere in den Regalen, dann kamen drei Dosen mit
Bohnen aus irgendeinem Balkanland, dann wieder nix. Bekanntlich gab es keinen
Kaffee und keine Bananen in den roten Supermärkten, aber auch banale Dinge wie
Ketchup oder Schokoriegel suchte man vergeblich. Statt Überfluss lange
Schlangen vor den Geschäften. Es war so deprimierend. Und trotz der geringen
Produktion schafften es diese Länder, ihre Umwelt komplett zu verseuchen.
Aber
was sieht der Autor jenseits der Mauer: „Labilität“ und „Perspektivlosigkeit“.
Seit 57 Jahren lebe ich im „sterbenden Kapitalismus“ und ich lebe gar nicht mal
so übel. Gab es in Leipzig vor der Wende einen Pizzaservice? Bin ich Unterdrückter
oder Unterdrücker? Vielleicht sollte ich mir einen Job suchen, um es
herauszufinden? Warum haben nicht große Teile der westdeutschen Bevölkerung
unter „Führung der Arbeiterklasse“ die Produktionsmittel vergesellschaftet wie
in der DDR? Ach nee, das waren ja die Russen. So viele Fragen und so viel Spaß.