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Holgi erwacht

 

Die Mittagssonne weckt mich und ich bin schweißgebadet. Ich mache den chinesischen Ventilator neben dem Bett an und denke eine Weile nach. Was mache ich hier und was habe ich vor? Dann erhebe ich mich von der durchgelegenen Matratze und greife nach dem kaputten löchrigen Regenschirm. Das Futonbett ist extrem niedrig und der Rahmen ist schon vor langer Zeit gebrochen. Ich habe ihn mit Büchern, einer Heine-Gesamtausgabe in altdeutscher Schrift, abgestützt. Ich packe den Schirm und komme mühsam in eine senkrechte Situation.

Nachdem der erste Schwindel vorüber ist, habe ich das Bedürfnis, mich hinzusetzen. Auf meinem Sessel liegt ein Stapel alter Zeitungen. Ich kann sie nicht wegwerfen, denn ich habe sie noch nicht gelesen. Sie sind höchstens zwei oder drei Jahre alt und voller wertvoller Informationen. Wo soll ich sie hinlegen? Überall stehen leere Flaschen in kleinen und großen Gruppen herum, Klamotten liegen in bunten Haufen auf dem Boden. Auf dem Schreibtisch sind Notizen, Romanentwürfe und Bleistiftstummel. Wenn ich den Marmeladenglasdeckel voller ausgedrückter Kippen und die leere Dose Heringe in Tomatensoße, in der eine Kakerlake ertrunken ist, wegräume, hätte ich ein wenig Platz. Ich finde mein Traumdeutungslexikon. Muss ich mal reinschauen, wenn ich mich wieder an den letzten Traum erinnere.

Im Badezimmer finde ich meine Holzpantinen. In der Badewanne stapelt sich verkrustetes Geschirr, das in allen Regenbogenfarben schimmelt. Ich habe Hunger, kann aber die Küche nicht finden. Ich hätte Lust auf Hotdogs, Enchiladas und Lasagne. Ratlos stehe ich im Flur. Wie viele Zimmer hat diese Wohnung? Habe ich sie jemals alle gesehen? Ich öffne eine Tür. Finsternis. Fäulnisgeruch. Das Rascheln eines Tiers. Ich muss hier weg. Im Schlafzimmer ziehe ich eine Hose und eine Jacke aus einem Haufen und suche den Ausgang. Als ich ihn endlich gefunden habe, schließe ich die Wohnungstür hinter mir. Habe ich überhaupt einen Schlüssel? Egal. Darum kann ich mich noch später kümmern.

Ich steige die Stufen in die U-Bahn-Station hinab. Rückkehr in den Schoß der Erdmutter. In welche Richtung soll ich fahren? Ich entscheide mich für die Endstation Osloer Straße. Oslo liegt im Norden und im Norden ist es kühl. Ich stelle mir vor, die U-Bahn-Linie würde bis über die Stadtgrenze nach Brandenburg führen. Dort steige ich aus, ins gleißende Licht dieses Sommertags, und laufe barfuß über eine Wiese und träume. Ich bin ein Gott, ein Narr, ein lebendiges Kunstwerk. Weiß die Welt überhaupt, dass es mich gibt?

Die Bahn kommt und ich steige ein. Die Leute machen mir ehrfürchtig Platz. Oder liegt es daran, dass ich seit drei Monaten nicht mehr geduscht habe? Ich ziehe einen Fächer aus meiner Jackentasche und fächele mir frische U-Bahn-Luft ins Gesicht. An der Endstation steige ich aus. Oslo habe ich mir ganz anders vorgestellt. Mit kleinen dunkelroten Holzhäusern und Imbisswagen, an denen man Fischbrötchen kaufen kann. Stattdessen ist das hier eine Mischung aus Saigon und Istanbul. Döner, Nudelsuppen und Spielhallen. Am Straßenrand entdecke ich einen alten Toaster auf einem Sperrmüllhaufen. Mann, ich suche schon seit Jahren einen Toaster! Selbst wenn er kaputt ist, kann ich meine Notizzettel in den beiden Schlitzen in „wichtig“ und „sehr wichtig“ sortieren.

Ich gehe wieder zurück in die U-Bahn-Station und fahre in die andere Richtung. Wenn das der Norden ist, wie sieht dann der Süden aus? Ich habe gehört, dort gäbe es ein Shaolin-Kloster. Neue Abenteuer warten, in meiner Aldi-Tüte klappert lustig ein Toaster, der jetzt mir gehört, und plötzlich habe ich Lust auf einen griechischen Joghurt mit Honig.


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