Den ganzen Politiker und Stammtischexperten, die das
Bürgergeld kritisieren und gegen eine Erhöhung sind, empfehle ich, mal einen
Monat von diesem Geld zu leben. Eine Freundin aus Berliner Tagen war 2007 Hartz-IV-Empfängerin.
Sie hat mir Jahre später von ihrem Alltag erzählt:
Die Freundin ruft an. Samstag Mädelsabend in einer schicken
Bar. Kommst du mit? Damals lag der Tagessatz bei elf Euro. Für Essen, Trinken
und alles andere. Soll man den ganzen Tag nichts essen, um abends zwei Gläser
Wein trinken zu können? Geht nicht. Also hat sie abgesagt.
Sie geht an einem Modegeschäft vorbei und sieht im
Schaufenster ein schickes Kleid oder eine Bluse, die ihr gefällt. Kann sie sich
nicht leisten. Ein neues Paar Schuhe, weil die ganzen alten Schuhe schon
abgelatscht sind? Vergiss es. Von einer Handtasche müssen wir hier gar nicht
reden.
Der neueste Kinofilm? Ein Rockkonzert? Theater? Kultur
streichst du als erstes. Sie wohnte damals in einer WG in Kreuzberg. Du gehst
an deinem Lieblingsitaliener im Kiez vorbei, an deinem Lieblingsinder, deinem
Lieblingsthailänder, an deiner Dönerbude. Kannst du alles vergessen.
Ein Toastbrot kostete damals bei Aldi sechzig Cent. Zwanzig
Scheiben Billigbrot. Die billigste Flasche Wein bekommst du für 1,99. Ansonsten
trinkt man sowieso nur Leitungswasser. Sie kennt diese Zahlen, über die sie
sich vorher keine Gedanken gemacht hat. Sie hat das Gefühl, Sonderangebote werden
nur für Menschen wie sie gemacht.
Ihre Freundinnen wollen am Wochenende an die Ostsee. Rügen
oder Usedom. Kommst du mit? Absurd. Sie könnte sich noch nicht mal eine Nacht
in der ranzigsten Pension in Binz leisten. Soll sie über ihre Armut sprechen? Sich
von ihren Freundinnen einladen lassen, als wäre sie Aschenputtel? Bei jedem
Bier ein schlechtes Gewissen haben? Also täuscht sie eine Erkältung vor.
2008 hat sie endlich einen neuen Job. In Ulm. Vom Nordosten
Deutschlands in den Südwesten. Hinter Ulm kommt noch der Bodensee und dann ist
die Welt zu Ende. Sie kennt niemanden in dieser Stadt, aber Hauptsache nicht
mehr Hartz IV. Dann kommt 2009 die Bankenkrise, die Wirtschaft bricht ein – und
sie wird wieder arbeitslos. Der Horror holt sie wieder ein. Diesmal jedoch in
totaler Einsamkeit und nicht bei ihren Freundinnen und Freunden in Berlin.
Aber ihre Geschichte hat ein Happy End. Sie ergattert einen
krisensicheren Job in Frankfurt, macht Karriere, findet Mr. Right und wohnt
heute mit ihm in einer schicken Eigentumswohnung im Westend. Aber das Jahr in
der Hölle hat sie nie vergessen. Diese Narbe bleibt.
Ich habe damals mal versucht, einen Monat wie sie zu leben.
Habe mir 360 Euro ins Portemonnaie gepackt und auf alles verzichtet. Die erste
Woche war ich noch tapfer. Was sie kann, kannst du auch, habe ich mir gedacht.
In der zweiten Woche war ich nur noch wütend. Was für ein Scheißleben! Ich habe
es einfach nicht mehr ausgehalten. Ich bin ins nächste Steakhaus. Gebt mir ein
großes, blutiges Stück Fleisch! Nein, ich will nicht zur Salatbar! Danach habe
ich mich an einen Tresen gekettet und ein Bier nach dem anderen getrunken. Am
Ende der zweiten Woche war das Geld alle. Dieses Sozialexperiment empfehle ich
allen Klugscheißern in den Talkshows und Parlamenten.