Ich dachte, solche Leute gäbe es nur in Kreuzberg und im
Prenzlauer Berg. Toxische Empfindlichkeit, gepaart mit Logorrhö und einer
Überdosis Selbstmitleid. Aber es war in Bingen. Dort habe ich die Nervensäge
des Jahres getroffen.
Wir saßen in einem „gutbürgerlichen“ Restaurant mit
Holztäfelung und anderen Elementen aus den sechziger und siebziger Jahren. Old
School war auch die Speisekarte: Schnitzel, Rumpsteak, dazu ein obligatorisches
Fischgericht und ein einziges vegetarisches Gericht. Die Nervensäge betritt den
Gastraum. Sie hat nur ihren Hund dabei. Sie bestellt ein Glas Wasser und das
vegetarische Gericht, Blumenkohltaler mit Rosenkohl.
Sie bekommt ihr Vegi-Gedöns und fängt an zu essen. Alles
gut. Aber dann geht es los. Sie zitiert die Kellnerin zu sich. Ich denke,
irgendetwas an ihrem Essen ist nicht in Ordnung, aber weit gefehlt. Sie
beschwert sich, die Kellnerin habe beim Bedienen am übernächsten Tisch die
Getränke von oben, also quasi wie mit einem Greifarm, vom Tablett genommen, und
nicht seitlich.
Sie hat sich gar nicht mehr eingekriegt. Das ginge gar
nicht. So was könne man in einem Restaurant nicht machen. Sie habe selbst über
zwanzig Jahre in der Gastronomie gearbeitet. Sie hat sich eine Viertelstunde
lang in einen Monolog hineingesteigert, dass mir Hören und Sehen vergangen ist.
Ihr sei nicht nur übel geworden, als sie gesehen habe, wie die Gläser gehalten
worden seien, ihr ginge es körperlich schlecht. Sie merke, wie sie wieder
Herpes bekäme.
Ans Weiteressen ist natürlich nicht zu denken. Sie schiebt
den Teller von sich. Immerhin bezahlt sie ihre Bestellung und geht. Als ich
wenig später selbst um die Rechnung bitte, versuche ich, die Kellnerin wieder
aufzubauen. Es ist doch völlig egal, wie man beim Servieren das Glas hält. Ich
benutze zur Erläuterung meiner Perspektive die in hiesigen Gefilden gängige
Formulierung „Ferz mid Krigge“ (Fürze mit Krücken). Mein Wildgulasch mit Klößen
und Rotkraut war übrigens ganz vorzüglich.